Brief des Präsidenten, Januar 2023

Tübingen, Januar 2023

 

Liebe Mitglieder der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie, liebe Freund*innen und Kolleg*innen,

Ihnen allen wünsche ich ein gutes und frohes 2023! Hinter uns liegt ein schwieriges und häufig aufreibendes Jahr. Vor allem der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, gibt Anlass zu großer Sorge; und das nicht allein mit Blick auf die Energieversorgung, sondern wegen des großen Leids der ukrainischen Bevölkerung, der Gefährdung des Weltfriedens und des vorläufigen Scheiterns einer europäischen Ordnung, die auch Russland als engen Partner mit einbezieht. Hoffen wir darauf, dass das neue Jahr ein friedlicheres wird!

Neben dem Krieg gibt es zahlreiche weitere globale Herausforderungen, allen voran die Klimakrise, aber auch die weltweit immer noch zunehmenden populistischen Strömungen und autokratischen Herrschaftsformen, die Spannungen mit China und natürlich die immer noch nicht bewältigten Auswirkungen der Corona-Pandemie. Eine interkulturell orientierte Philosophie sollte diese Herausforderungen nicht ignorieren, sondern helfen, die häufig immer noch bestehenden alten Denkmuster und verschiedenen Formen von Zentrismus aufzudecken, die dem Weltfrieden ebenso wie einem anderen Umgang mit der Natur entgegenstehen. Die Kritik am – vor allem im so genannten „Westen“ – weit verbreiteten Naturalismus, der die Natur im Wesentlichen als Ressource für menschliches Handeln versteht, macht beispielhaft deutlich, wie grundsätzlich wir umdenken müssen. Das Gespräch mit nicht-westlichen Philosophien hilft, auf die verdeckten Selbstverständlichkeiten des eigenen Denkens aufmerksam zu werden. Der Naturalismus rückt dabei in eine Nähe zum patriarchalen Muster des überwunden geglaubten kolonialen Denkens. Es ist sicherlich kein Zufall, dass aktuell verstärkt de- und postkoloniale Arbeiten diskutiert werden. Die Anstöße dazu kommen häufig aus benachbarten Disziplinen, aber die Philosophie greift sie zunehmend auf. Das wird nicht zuletzt auch an den Publikationen unserer Mitglieder und den Veranstaltungen sichtbar, die die GIP in den zurückliegenden Jahren durchgeführt hat. Und doch halte ich es für eine wichtige Aufgabe, die Unterschiede und Differenzen nicht aus den Augen zu verlieren, die zwischen de- und postkolonialem Denken auf der einen und interkultureller Philosophie auf der anderen Seite bestehen - nicht um der Abgrenzung willen, sondern um voneinander lernen und besser zusammenarbeiten zu können. Auch dazu hat im letzten Jahr bereits eine Veranstaltung stattgefunden, und ich würde dieses sehr fruchtbare Gespräch gerne fortsetzen.

Die GIP hat im zurückliegenden Jahr ihr dreißigjähriges Jubiläum gefeiert. Ihr erster Präsident war von 1992-2004 unser heutiger Ehrenpräsident Prof. Dr. Ram Adhar Mall; ihm folgten Prof. Dr. Claudia Bickmann von 2004-2016 und Prof. Dr. Georg Stenger von 2009-2019. Seit ihren Anfängen hat sich die Zahl der Mitglieder dynamisch entwickelt und liegt heute bei 189 Mitgliedern. Die Situation interkultureller Philosophie hat sich in diesen drei Jahrzehnten allerdings deutlich verändert. Ging es Anfang der 1990er Jahre häufig noch darum, die Existenz außereuropäischer Philosophien allererst anzuerkennen (exemplarisch zu sehen an den damaligen Diskussionen um eigenständige Philosophien in Afrika), so befinden wir uns heute längst mitten im Gespräch und forschenden Austausch zwischen den verschiedenen philosophischen Traditionen. Und doch bleibt es auch heute eine drängende Aufgabe, die Pluralität der Traditionen nicht erneut der einen, eigenen Philosophie zu subsumieren, sondern das Gespräch tatsächlich offen zu führen. Wenn wir das interkulturelle Gespräch ernst nehmen, dann begeben wir uns damit an den Rand dessen, was wir als Philosophie kennen, wir begeben uns tatsächlich ins Offene – und beginnen zu philosophieren.

Über die Veranstaltungen, die die GIP – zum Teil mit Partnern – in den letzten Jahren durchgeführt hat, habe ich auf unserer Mitgliederversammlung im November letzten Jahres ausführlich berichtet. Sie können diesen Bericht stichpunktartig im Protokoll der Mitgliederversammlung, das diesem Newsletter beigefügt ist, nachlesen. Auch auf unserer Homepage findet sich ein Überblick über alle Veranstaltungen. Sehr herzlich möchte ich Sie an dieser Stelle nochmals zu den monatlich stattfindenden GIP-Lectures einladen. Diese Online-Vortragsreihe, die wir im ersten Coronajahr begonnen haben, bewährt sich hervorragend, so dass wir uns entschlossen haben, sie auch nach dem Wegfall der Coronabeschränkungen fortzuführen. Das Online-Format hat den Vorteil, dass wir sowohl Redner*innen als auch Hörer*innen aus der ganzen Welt einladen und zusammenbringen können. Die nächsten Vorträge finden am 31. Januar 2023 (Prof. Dr. Daisuke Kamei, Risumeikan University, Kyoto: „Jacques Derrida and Shūzō Kuki: On Contingency and Event“) und am 23. Februar 2023 (Prof. Dr. Mathias Obert, National Sun Yat-Sen University Taiwan: „Als Phänomenologe unterwegs in japanischen Gärten“) jeweils um 12:00 mittags deutscher Zeit statt.

Bei der Mitgliederversammlung standen auch die Neuwahlen des Vorstands und der Beisitzer*innen an. Der bisherige Vorstand hat sich zur Wiederwahl gestellt und ist ohne Gegenstimmen im Amt bestätigt worden. Zu Beisitzer*innen sind (erneut) Dr. Gabriele Osthoff-Münnix und Prof. Dr. Chibueze Udeani sowie (neu) Prof. Dr. Anna Czajka-Cunico gewählt worden. Herr Prof. Dr. Elberfeld ist auf eigenen Wunsch ausgeschieden. Ich danke Ihnen allen für das Vertrauen, das Sie mir und allen Kolleg*innen im Vorstand entgegenbringen. Bedanken möchte ich mich zudem bei den Vorstandsmitgliedern für die sehr gute Zusammenarbeit in den letzten Jahren. Zu den wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre gehören zum einen eine stärkere Internationalisierung unserer Gesellschaft, außerdem die Einladung an jüngere Mitglieder, sich noch mehr als bisher aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Diese Einladung richtet sich aber natürlich nicht nur an die jüngeren., sondern an alle Mitglieder. Eine philosophische Fachgesellschaft wie die GIP kann ihre Aufgabe, die interkulturelle Philosophie in Forschung und Lehre zu fördern und in der Philosophie wie in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Relevanz interkultureller Fragestellungen zu schaffen, nur leisten, wenn alle ihre Mitglieder daran aktiv mitarbeiten – in der Lehre, durch Vorträge, Workshops und Publikationen. Ich lade Sie deshalb alle herzlich ein, Ihre Aktivitäten künftig noch stärker mit der GIP zu verknüpfen, um unsere Gesellschaft als weithin sichtbare Plattform interkulturellen Philosophierens zu stärken.

Für das Frühjahr 2024 ist zudem die nächste „Jahrestagung“ der GIP an der Universität Tübingen geplant. Sie steht unter dem Arbeitstitel “Spaces in an Intercultural Perspective. Dwelling, Belonging and Imagination”. Neben einigen eingeladenen Keynotes wird es wieder einen Call for Papers geben, der rechtzeitig über den Newsletter an alle Mitglieder verschickt wird. Schon heute möchte ich Sie sehr herzlich zu dieser Tagung einladen. Es wäre großartig, wenn sich viele Mitglieder beteiligten und wir die Tagung zu einem Ort lebendigen Austauschs unserer Gesellschaft machen könnten!

Bereits im August 2021 ist unser langjähriges Mitglied Prof. Dr. Notker Schneider verstorben. Er trat bereits im Jahr 1993 in die GIP ein und war von 1994-2000 ihr erster Geschäftsführer. Ihm gebührt unsere dankbare Anerkennung. Auf der Homepage der GIP finden Sie einen Nachruf auf Notker Schneider, den Hon.-Prof. Dr. Hermann-Josef Scheidgen verfasst hat.

Auch in diesem Jahr möchte ich abschließend all diejenigen, die uns noch keine Einzugsermächtigung erteilt haben und es bislang versäumt haben, ihren Mitgliedsbeitrag für das Jahr 2022 zu überweisen, sehr herzlich darum bitten, dies rasch nachzuholen. Außerdem bitte ich Sie, uns über Adress- oder Kontoänderungen zu informieren und ggfs. neue E-Mailadressen rechtzeitig mitzuteilen.

Ich wünsche Ihnen, auch im Namen des gesamten Vorstands der GIP, nochmals alles Gute für das neue Jahr und hoffe, viele von Ihnen im Laufe des Jahres bei einer unserer Veranstaltungen wiederzusehen!

Ihr

Niels Weidtmann